Wut oder Trauer?
Gastbeitrag von Sr. Irmgard Richter - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.
Vor mir steht Chris, ein sechzehnjähriger großer Junge, und klagt mir sein Leid.
Sein Vater sei ein „Arbeitstier“ und wenig zuhause. Und wenn er da ist, nörgelt er ständig an Chris herum. Wegen Kleinigkeiten fährt er aus der Haut, zum Beispiel, wenn ihm etwas misslingt. Manchmal sagt Chris dann auch Dinge, die nicht so nett sind, und sie kriegen Zoff miteinander. Der große Bruder hat gerade Abi gemacht und ist der Star der Familie. Dem wird alles verziehen, aber Chris kann dem Vater nichts recht machen. Im Erzählen erfahre ich, dass der Vater kein Hobby hat und wenig Freude an seiner Arbeit, für die er so viel einsetzt. Anders als die Mutter kann er nicht entspannen. Geld ist ihm sehr wichtig und er macht sich lustig über Chris, der sein Ehrenamt unentgeltlich macht. Chris redet sich alles von der Seele. Zuletzt frage ich, was er sich von seinem Vater wünscht.
Zu meinem Erstaunen wünscht er sich nicht etwas von ihm, sondern vielmehr etwas für seinen Vater: Zufriedenheit. „Ich wünsche ihm so sehr, dass er zufriedener wird. Er hat doch alles.“ Ein Teenager, der durchschaut, dass sein Vater aus eigener Not heraus so ist, wie er ist, und der darüber traurig ist. Hinter seiner Wut stecken Liebe, Sorge um den Vater und Trauer über dessen Selbstabwertung. Wie oft mag das so sein: Wir ärgern uns über unsere Lieben, aber hinter der Wut verstecken sich unsere Liebe, Angst und Traurigkeit. Chris wünscht sich, dass wir miteinander für seinen Vater beten. Das tun wir. Er umarmt mich lange und verabschiedet sich.