Adventskalender - Selbstsorge - 24. Türchen

Die Bruchstellen des Lebens vergolden

Gastbeitrag von Prof. Dr. Traugott Schächtele

Vorsicht Weihnachten! Als unsere Kinder klein waren, haben wir jedes Jahr dieses Schild aufgehängt. Als Erinnerung und Ermahnung zugleich. Heute ist Heiligabend! Da ist höchste Vorsicht geboten. An Heiligabend liegt nicht nur das Kind in der Krippe wie in den Bilddarstellungen in vielen „klassischen“ Adventskalendern an diesem Tag. An Heiligabend liegen häufig auch die Nerven blank. An Heiligabend liegen die Problemzonen vieler familiärer Systeme offen. Weihnachten ist auch ein Fest größter Verletzlichkeit. Das wissen alle, die beruflich mit Menschen arbeiten – oder kennen das aus eigener Erfahrung.

Und trotzdem: Dem besonderen Zauber der weihnachtlichen Tage und der sich um dieses Kind rankenden Geschichten scheint unausrottbar in der Welt. Obwohl sich schon in dieser Geschichte nichts ohne ganz unweihnachtliche Rahmenbedingungen abspielt: Eine junge Frau, die viel zu früh ihr Kind bekommt. Ein Vater, der sich aus dem Staub machen will. Die Geburt in einer Absteige am Rande des Städtchens. Finstere Gesellen als erste Gäste. Weniger romantisch geht’s eigentlich kaum noch. Woher kommt dann aber der Glanz, den diese Ereignisse so heimelig, ja fast heilig ausstrahlen, dass er seit 2000 Jahren wirkt?

Kintsugi kommt mir als eine mögliche Antwort in den Sinn. Kintsugi ist eine traditionelle japanische Methode, Keramik zu reparieren. Die einzelnen Scherben werden aufs Neue zusammengeklebt. Aber die Bruchstellen werden nicht versteckt, sondern mit Gold verziert. Vergoldete Bruchränder, die den Wert einer Figur, einer Vase oder eines Tellers noch erhöhen. Erst die goldenen Bruchränder machen das neu zusammengesetzte Stück Keramik höchstansehnlich und einzigartig.

Eine gute Idee, die ich auch gedanklich umsetzen kann. Kein Leben bleibt ohne Verletzungen und Blessuren. Und in der weihnachtlichen Geschichte sind beim ersten Hinsehen weder die Ereignisse noch die Familie spektakulär oder erinnerungswürdig. Besonders werden sie, weil die Bruchstellen des Lebens der handelnden Akteur:innen für andere zum Ausgangspunkt neuer Hoffnungsgeschichten werden. Maria und Josef werden zur heiligen Familie, ihr Kind zum Hoffnungsträger für viele Menschen durch die Jahrhunderte.

Was in der Geschichte der Weihnacht möglich war, lässt sich auch in unsere Lebensgeschichten übertragen. Das Programm lautete dann: Ich möchte meine eigenen Bruchstellen vergolden. Sie zum Leuchten bringen. Dieses Corona-Jahr auch als Jahr neuer Möglichkeiten verstehen. Im weihnachtlichen Streit zu Hause die Zeichen der Vitalität der Beziehung wahrnehmen. Und diese „alle Jahre wieder“ aufgeführte weihnachtliche Geschichte von Maria und Josef als eine verstehen, die die Lebenskrise eines Paares mit ihrem neugeborenen Kind so vergoldet, dass sie mir in ihren Bruchstellen nahekommt und wertvoll wird.

Ein ganz schön großes Programm für diesen 24. Dezember 2020. Aber immerhin folgen ja noch drei Feiertage. Frohe oder besser: Goldene Weihnachten!