Begegnung am Abend

Gastbeitrag von Sr. Irmgard Richter - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.

Ich habe einen schönen Platz gefunden, um den Sonnenuntergang zu genießen, und
sitze neben einem Steinkreuz. Da kommt ein junger Mann den Feldweg neben mir
heruntergerannt. Ich sehe, wie er sich bekreuzigt. Ich gucke. Er guckt, bleibt stehen
und meint: „Ich hab mich jetzt nicht wegen Ihnen bekreuzigt. Ich mache das immer –
sogar dreimal: wenn ich hochlaufe, wenn ich oben bin und wenn ich wieder
runterlaufe.“ Ich staune. „Aha. Und was bedeutet das für Sie?“ Die Frage macht ihn
anscheinend ein bisschen ratlos. „Ja, weil… Wenn ich hochlaufe, dann bin ich dankbar,
dass ich es geschafft habe, rauszukommen.“ Pause. „Ich bete auch das Vaterunser,
wenn ich laufe.“ Dann erkundigt er sich nach mir und wir stellen fest, dass wir in
derselben Straße wohnen. Bald läuft er weiter – querfeldein bergab.

Als ich weitergehe, überlege ich, ob er wohl in eine Kirche geht. Ich frage mich, ob er
bei dem Kreuzeszeichen auch an den Mann denkt, der am Kreuz starb aus Liebe zu
ihm. Was glaubt er? Ich habe ihn nicht gefragt. Dazu kam es nicht in unserer kurzen
Begegnung. Ich weiß auch seinen Namen nicht. Aber ich denke, dass Gott ihn kennt
und dass Gott das alles weiß.

Ich stelle mir vor, dass wohl viele Menschen so ihre eigenen religiösen Rituale haben,
die vielleicht nicht unbedingt „kirchenkonform“ sind. Das kann ihnen viel bedeuten,
ohne dass sie es theologisch begründen könnten. Wie gut, dass Gott unsere Herzen
kennt. Er versteht uns besser als jeder Mensch, wahrscheinlich besser als wir selbst.
Ich stelle mir vor, dass Gott sich freut über diesen jungen Jogger. Egal, ob der bei
seinem Bekreuzigen an ihn denkt! Gott denkt an ihn. Soviel steht fest.