Es knospt

Gastbeitrag von Sr. Irmgard Richter - Evangelische Stadtmission Freiburg e.V.

Hilde Domin musste als Jüdin im Dritten Reich fliehen und lebte 22 Jahre im Exil.
Ihre Gedichte sind dennoch voller Hoffnung. Ich mag sehr dieses kurze Herbstgedicht:

„Es knospt unter den Blättern.
Das nennen sie Herbst.“

Tatsächlich: Wenn im Herbst die welken Blätter fallen, sieht man schon die Knospen
der neuen Blätter, die im nächsten Frühjahr kommen werden. Was für ein Kontrast!
Mit Herbst verbinden wir doch, dass etwas zu Ende geht, dass es kälter und dunkler
wird – eher traurige Gefühle. Mit Knospen verbinden wir den Frühling, das
Wiedererwachen der Natur und eher freudige Gefühle. Ich denke, Hilde Domin will
sagen: Herbst ist nicht nur Herbst. Darunter wartet schon das Neue, das Leben.
„Das nennen sie Herbst“ – wer sind denn „sie“? Die anderen? Die „Leute“? Jedenfalls
nicht die Dichterin. Sie will das anders nennen. Denn Herbst ist nicht nur Herbst.

Und sie meint sicher nicht bloß Blätter, sondern das Leben überhaupt. Wenn wir es
schwer haben, wenn Dinge bedrohlich sind, uns etwas schmerzlich fehlt, wenn wir
Ungutes erleben, auch dann ist das nicht alles. Die Natur lehrt uns: das Vergehen ist
nur vorläufig, nur vordergründig. Neues ist schon unterwegs und bereitet sich schon
vor. Ohne Herbst und Winter gäbe es keinen Frühling. Und nach dem Winter kommt
ein neuer Frühling. Hoffnung ist immer.